Selbstbewusst als Vorbild
Luba* trägt ihre Haare neuerdings ganz offen. Die 13jährige setzt damit ein Zeichen, will sich auch nach außen erkennbar von den meisten Frauen und Mädchen im westafrikanischen Sierra Leone unterscheiden. Denn: Luba bricht mit einer tief in der sierra-leonischen Gesellschaft verankerten Praxis. Sie ist nicht beschnitten. „Ich bin stolz darauf, ein unbeschnittenes Mädchen zu sein, mit all meinen intakten Körperteilen. Ich fühle mich gut so und habe die Kontrolle über meinen Körper“, sagt sie selbstbewusst.
120 junge Mädchen aus der Gegend von Bumbuna, einem kleinen Ort im Norden des Landes, hat Luba inspiriert, es ihr gleichzutun. Vorbilder wollen sie sein und mehr Mädchen ermutigen, sich dieser Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung zu widersetzen. Eine mutige Entscheidung in einem Land, in dem laut UNICEF nach wie vor rund 86 Prozent der Frauen und Mädchen verstümmelt sind.
Schädliche Praxis mit Folgen
Noch immer gilt diese Praxis in der breiten Bevölkerung Sierra Leones als Aufnahmeritual in die bestehende gesellschaftliche Ordnung. Durchgeführt wird der Eingriff fast immer von Beschneiderinnen, die damit auch ihren Lebensunterhalt verdienen. Es gibt verschiedene Formen der weiblichen Genitalverstümmelung. Bei einer davon entfernen sie den Mädchen ganz oder teilweise die äußeren Geschlechtsorgane, also Klitoris und Schamlippen – meist ohne Betäubung mit Messern, Rasierklingen oder Glasscherben.
Die Folgen dieses Eingriffs sind vielfältig. Sie reichen von starken Schmerzen und Schock über schwere Blutungen – im schlimmsten Fall mit Todesfolge – Infektionen, Zysten und Unfruchtbarkeit bis hin zu Komplikationen bei späteren Entbindungen und psychologischen Problemen.
„Ich bin stolz darauf, ein unbeschnittenes Mädchen zu sein, mit all meinen intakten Körperteilen. Ich fühle mich gut so und habe die Kontrolle über meinen Körper. Und ich möchte andere Mädchen ermutigen, für sich selbst einzustehen.“
Luba
Teilnehmerin des Projekts "My Body My Right"
My Body My Right
Seit Ende 2020 engagieren wir uns im Rahmen des Partnerprojekts „My Body My Right“ gegen die menschenrechtsverletzende Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung. Mit der „Commit & Act Foundation Sierra Leone“ haben wir einen Partner gefunden, der sich seit 2014 erfolgreich im Bereich Kindesschutz engagiert.
Luba und ihre Freundinnen sind Teilnehmerinnen des Projekts – so wie aktuell insgesamt 800 Mädchen aus mehreren Gemeinden. Und es könnten noch mehr sein. Die Nachfrage nach einer Aufnahme in das Programm steigt! Das mag fast ein wenig überraschen, wenn man davon ausgeht, dass diese Praxis tief in der sierra-leonischen Gesellschaft verwurzelt ist.
Das Geheimnis der breiten Akzeptanz liegt vermutlich in seinem umfassenden Ansatz, der bei allen wichtigen Zielgruppen ansetzt: bei den Mädchen selbst, ihren Eltern und anderen Bezugspersonen, in den Schulen, Gemeinden und mittels Lobbyarbeit auch auf staatlicher Ebene. Wir klären gemeinsam mit dem geschulten Team vor Ort auf, setzen uns für Bildung ein und eröffnen sowohl den Eltern kurzfristig als auch den Mädchen langfristig berufliche Perspektiven. Nur so können wir einen grundlegenden Wertewandel in der sierra-leonischen Gesellschaft unterstützen.
Mit 19 Franken helfen
19 Franken sorgen dafür, dass wir ein Mädchen im "My Body My Right" Programm schulen und begleiten können. Auf diesem Weg haben die Mädchen in Sierra Leone die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und über ihre Zukunft selbst zu bestimmen!
Bildung ermöglicht den Mädchen ein selbstbestimmtes Leben
Praktisch gestaltet sich das wie folgt: In Lubas Heimatort Bumbuna führen Projektmitarbeitende zunächst eine Reihe von Aufklärungsveranstaltungen durch. Sie machen den Einwohnern die vielfältigen schädlichen Auswirkungen der weiblichen Genitalverstümmelung bewusst sowie die geltenden rechtlichen Paragraphen. Immer wieder betonen sie auch die Wichtigkeit von Schulbildung für die Mädchen. Dies wird durch die Bereitstellung von Schulmaterialien und die finanzielle Unterstützung der Familien für den Schulbesuch der Töchter untermauert.
Multiplikatoren sind unerlässlich
Mitverantwortlich für das Gelingen des Projekts sind auch Menschen, die den Wandlungsprozess begleiten. Das sind unter anderem Lehrerinnen und Lehrer, die besonders sorgsam rund um das Thema weibliche Genitalverstümmelung aufgeklärt wurden, jetzt als Multiplikatoren ihr Wissen weitergeben. Auch über das Radio klären die Projektmitarbeitenden und andere Expertinnen und Experten die sierra-leonische Öffentlichkeit über die Folgen der weiblichen Genitalverstümmelung für Körper und Seele auf.
Zusätzlich richten sie sogenannte „Girls Clubs“ in den Schulen ein, die von den Projektteilnehmerinnen selbst geleitet und von Lehrerinnen und Lehrern mitbetreut werden. Die Botschaft: „Wir unbeschnittenen Mädchen sind etwas Besonderes. Wir sind selbstbewusst, modern, und wir bestimmen über unseren Körper.“ Die Lehrerinnen und Lehrer berichten, dass die Mädchen nicht mehr von anderen Mädchen stigmatisiert, sondern bewundert und als Vorbilder angesehen werden.
Selbst Beschneiderinnen schwören der Tradition ab
Lubas Großmutter sowie die (Groß-)Eltern der anderen Mädchen haben sich schriftlich dazu verpflichtet, ihre (Enkel-)Töchter nicht beschneiden zu lassen. Als Anreiz, diese Vereinbarung auch wirklich einzuhalten, bekommen sie quartalsweise eine finanzielle Unterstützung. Denn: Die weibliche Genitalverstümmelung hat in Sierra Leone auch eine ökonomische Komponente. Eltern erhalten für die Verheiratung ihrer Tochter einen Brautpreis. Die weibliche Genitalverstümmelung gilt oft noch als Voraussetzung für die Ehe. Sie markiert den Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein, selbst wenn das Mädchen minderjährig, ja manchmal sogar erst 12 oder 13 Jahre alt ist.
Mit der monetären Unterstützung im Rahmen des Projekts sollen die Familien der Mädchen unter anderem in die Lage versetzt werden, sich eine nachhaltige Einkommensquelle aufzubauen – beispielsweise einen kleinen Betrieb oder Verkaufsstand – und nicht in einer finanziellen Notlage auf den Brautpreis zu setzen und die Töchter doch verstümmeln zu lassen. Um keine Abhängigkeiten zu schaffen, sinkt der ausgezahlte Betrag über die Projektlaufzeit nach und nach, während sich das kleine Unternehmen der Eltern zur Selbständigkeit entwickelt.
Finanzielle Perspektiven schaffen
Neue Einkommensquellen müssen auch für die Beschneiderinnen, die „Soweis“ gefunden werden. Traditionell versorgen die Familien der Mädchen die „Soweis“ während der sogenannten Initiationszeit mit Lebensmitteln, Kleidung, Schmuck und Geld. Auch später bleiben sie ihnen oft verbunden und beschenken sie gelegentlich. Umso erfreulicher ist, dass bereits viele von ihnen in den teilnehmenden Gemeinden ihr Bedauern darüber geäußert haben, dass sie diese Praxis ausgeübt haben und ihre Messer niedergelegt haben.
Manche haben ihre eigenen Töchter für das „My Body My Right-Projekt“ angemeldet. Ein deutliches Zeichen, dass sie diese schädliche Praxis überwinden möchten. Um den Frauen eine finanzielle Perspektive zu bieten, sodass sie nicht zu der schädlichen Praxis zurückkehren müssen, unterstützt das Projekt die „Soweis“ seit April 2022 mit einer Komponente für eine alternative Einkommensquelle im landwirtschaftlichen Bereich.
Sie erhalten Trainings, Saatgut und Land wird zur Verfügung gestellt und sie können Lebensmittel für ihren Eigengebrauch sowie zum Verkauf anbauen. Auch Lubas Großmutter ist überzeugt, richtig entschieden zu haben, indem sie ihrer Enkelin vor der Beschneidung bewahrt hat. Sie wünscht ihrer Enkeltochter ein selbstbestimmtes und gesundes Leben – mit einem unversehrten Körper.
* Name geändert
Das Projekt im Überblick
- Unsere Projektstandorte befinden sich in den Distrikten Bo, Bombali und Tonkolili
- Finanzielle und psychosoziale Unterstützung für derzeit 800 Mädchen
- Unterstützung der Familien der Mädchen zum Aufbau eines Kleingewerbes
- Trainings für Eltern, Betreuungspersonen, Lehrerinnen und Lehrer sowie an den Girls Clubs der Schulen
- Advocacy- und Lobbyarbeit auf nationaler Ebene
Komponente für alternative Einkommensquellen für 60 „Soweis“
Unsere Partnerorganisation
Der Schwerpunkt der unabhängigen sierra-leonischen NGO liegt in der umfassenden Betreuung von Überlebenden sexualisierter Gewalt, insbesondere von Mädchen. Seit 2014 arbeitet die Organisation in der Beratung und Unterstützung von Mädchen und deren Eltern, die sich gegen FGM entschieden haben. Commit & Act betreibt außerdem zwei Schutzhäuser für missbrauchte Mädchen, das Bo und das Makeni Girls Shelter.
Makeni Girls-Shelter
Wir unterstützen auch ein von unserem Partner betriebenes Schutzhaus für Mädchen, die Opfer von sexueller Gewalt geworden sind. Die Mädchen finden dort ein Zuhause auf Zeit und werden medizinisch und psychologisch betreut. Viele Fälle werden zudem vor Gericht gebracht.
Projekte entdecken
Die Swiss Doctors leisten ehrenamtlich Arzteinsätze in Entwicklungsländern und helfen dort, wo das Elend zum Alltag gehört. In städtischen Slums und ländlichen Armutsregionen auf den Philippinen, in Indien, Bangladesch, Kenia und im Bereich der Flüchtlingshilfe bieten unsere Ärztinnen und Ärzte Sprechstunden für Menschen am Rande der Gesellschaft an. Die eingesetzten Mediziner arbeiten in ihrem Jahresurlaub oder im Ruhestand für einen Zeitraum von 6 Wochen und verzichten dabei auf jegliche Vergütung.